Koffergeschichten

Erzählungen verlorener Taschen, vergessener Menschen
Ö1 und Wien Museum,  2017

30 Texte – einer persönlicher, als der andere, 30 Zeitzeugnisse zum aktuellen Stand unserer Gesellschaft. Denn sehen wir nicht genau am Rand der Gesellschaft, wie es um die Gesellschaft selbst bestellt ist?

22 Elsie Herberstein

Ich sah die Notschlafstelle der VinziRast in der Wilhelmstraße 10 zum ersten Mal an einem Sommernachmittag – unbewohnt. Cecily Corti zeigte mir ihr Werk, die Idee, für die sie nun schon seit 15 Jahren brennt. Ein Ort an dem man sich für 2 € pro Nacht ein Bett leisten kann. Ab 6 Uhr abends bemühen sich um die 48 Betten viele Wartende. Eine Traube von Menschen steht dann vor der Tür und versucht ihr Glück. 30 Tage kann man dieses Angebot in Anspruch nehmen, dann wird man gebeten weiterzuziehen. Viele Betten und auch viele Schliessfächer werden also nicht nur für eine einzige Nacht bezogen, manchmal sind es Tage oder Wochen.

An diesem Sommernachmittag als ich die Notschlafstelle Wilhelmstraße zum ersten Mal sehen durfte, war der Raum also leer. Und doch nicht ganz leer. Kleine Zeichen von Leben waren auf den Betten zu finden. Eine Postkarte, ein zweites Paar Schuhe, ein Stofftier am Kopfkissenrand. Letzte Zeichen von Habundgut, von Sehnsucht, von Heimweh.
Und diese Zeichen sprachen eine deutliche Sprache, die in der Stille des Nachmittags für mich sehr klar zu verstehen war. Wie immer, wenn mich ein Ort beeindruckt, denke ich über ein neues Projekt nach, und die Idee war gleich da: Ich packe einen Koffer. Ich packe einen Koffer mit dem was in der Notschlafstelle liegengeblieben ist. Ich packe in den Koffer die Postkarte, die Schuhe, und das Stofftier, und vielleicht finde ich noch ein Kleidungsstück, ein Hemd oder eine Bluse, – und dann schließe ich den Koffer zu. Allerdings: ich packe nicht nur einen Koffer, ich packe 30 Koffer.

Diese Koffer liefere ich an meine Lieblingsautoren aus – keine Angst, dachte ich mir, mir fallen 30 AutorInnen ein – mit der Bitte den Koffer zu öffnen sich den Inhalt genau anzusehen, und einen Text darüber zu schreiben. Über das Liegengebliebene zu schreiben, über das Leben, das einen da anweht. Ich bitte die Autoren den Text zu den Habseeligkeiten zu legen und den Koffer wieder zu verschließen.

Dann hole ich den Koffer ab. Und bringe ihn mit den anderen 29 Koffern zum Wien Museum. Dort werden die Koffer am 25. April 2018 zu sehen sein, und werden ab 18.30 Uhr zu Gunsten der Notschlafstelle der VinziRast versteigert, um eine neue Reise anzutreten, denn die VinziRast hat einiges zu feiern: 15 Jahre Verein Vinzenzgemeinschaft St.Stephan mit der Notschlafstelle, 10 Jahre Vinzi Rast Corti Haus, 5 Jahre Vinzi Rast mittendrin. Macht zusammen 30 Jahre gemeinsame Arbeit gegen Obdachlosigkeit, und 30 Koffer, die davon erzählen.

Inzwischen habe ich alle 30 Koffer, Rucksäcke, Taschen, Seesäcke und Handtaschen in allen Variationen zusammengerafft, und habe darin Schuhe, Kleider, Kämme, Verbandskästen, Bälle, Wäscheleinen, Raketen, Uhren, Schmuck, Stofftiere, Puppen, Gebetbücher, Brillen, Bleistifte, Kugelschreiber, Schlüssel, Tagebücher, Bohrmaschinen, Arbeitsanzüge, Handys verpackt. In einem Paar Turnschuhe Größe 43 habe ich sogar einen kleinen Kinderturnschuh entdeckt, der maßgeschneidert hineinzupassen schien. So gerüstet trat ich einen Streifzug durch die Wohnungen, Arbeitsplätze und Ateliers meiner AutorInnen an, habe unzählige Tassen Kaffee getrunken, durfte mich mit Ihnen über das Weltgeschehen im allgemeinen und die österreichische Politik im besonderen unterhalten. Konnte Pläne schmieden, und neue Konzepte entwickeln, und ich habe 30 wundersam neubefüllte Koffer von Georg Stefan Troller, Doron Rabinovici, Angelika Reitzer, Milena Michiko Flasar, Clemens Setz, Sabine Gruber, Anna Kim, Helmut Wimmer, Robert Schindel, Renate Welsh, Erika Pluhar, Barbara Coudenhove, Grischka Voss, Franz Schuh, Iljia Trojanow, Michael Koöhlmeier, Radek Knapp, Theodora Bauer, Peter Stefan Jungk, Peter Turrini, Dirk Stermann, Elsie Herberstein, Ferdinand Schmatz, Alfred Dorfer, Christian Futscher, Anna Weidenholzer, Karl Markus Gauss, Robert Prosser, Richard Obermayer und Phillip Blom entgegen genommen.